Unter dem Titel "Geisteswissenschaftliches Arbeiten" erschien im Lichtwolf Nr. 29, Herbstausgabe 2009, S. 14-17, ein Artikel von Stefan Schulze Beiering.

Text und Foto (Georg Frost) mit freundlicher Erlaubnis der Redaktion.



Geisteswissenschaftliches Arbeiten

Was könnte dafür sprechen?

1. Es macht Spaß
2. Es ist sinnvoll
3. Es geht nicht anders

Punkt 1 lässt sich schnell abarbeiten. Geisteswissenschaftliches Arbeiten macht keinen Spaß, jedenfalls habe ich das von den allerwenigsten gehört. Literatursuche, korrektes Zitieren, das schulmäßige Gliedern, die Verwendung von Fachvokabular, das Denken in kleinen Schritten, der Zwang alles zu belegen, der systematische Ansatz, der sachlich-komplexe Schreibstil, das Sich-Einfügen in universitäre Schulmeinungen, das vorweg geklärte Maß an Kritik und die vorweg erklärte Menge an geistigem Ertrag, der Forschungsauftrag in Abstimmung mit dem Professor, mithin das vollständig sozialisierte geistige Arbeiten, man könnte auch sagen die Entfremdung, die Entfernung vom selbstreferentiellem Lesen und Schreiben, das alles kann nicht lustorientiert genannt werden. Nein, geisteswissenschaftliches Arbeiten macht keinen Spaß. Es ist Fronarbeit. Kärrnerarbeit. Das kleine Einmaleins des Notwendigen, des Gebotenen. Die akademische Weihe vollzieht sich im seriösen Gekröse.

Punkt 2 stellt eine größere Herausforderung dar. Ist geisteswissenschaftliches Arbeiten sinnvoll? Nun ja, die Frage allein ist eine Provokation. Wie kann man eine solche Frage stellen? Wie kann man wissenschaftliches Arbeiten in Frage stellen? Natürlich ist es sinnvoll! Seit Generationen arbeiten die Universitäten so, das sind Hunderte, ach Tausende von Professoren! Sieh auf die Autoritäten! Achte Kant, Weber, Habermas! Unsere Gesellschaft verneigt sich, das Feuilleton übersetzt! Und alle Studenten lernen! Alle Gebildeten denken akademisch geprägt! Der Nimbus der Wissenschaft ist ungebrochen.
Wenn ich hier also geisteswissenschaftliches Arbeiten in Frage stelle, unterziehe ich die universitäre Gepflogenheit einer möglichen Prüfung. Das ist – für Geisteswissenschaftler – eine Ungeheuerlichkeit. Dennoch ist es notwendig. Das Arbeiten an der Universität muss sich zu seiner Rechtfertigung befragen lassen. Die Frage nach dem Sinn ist legitim
Natürlich ist damit Skepsis geäußert. Die Frage stellt sich einem nur dann, wenn man vieles als nicht sinnvoll empfunden hat und wenn so etwas wie geistige Befriedigung an der Uni nicht stattfand. Erst dann kommt man auf die Idee, über den Sinn des Ganzen nachzudenken.
Da den Geisteswissenschaften der existentielle Bezug fehlt und das schöngeistige Element den Studierenden ausgetrieben wird, fehlt der menschliche Berührungspunkt. Damit wird zum Problem, dass die Geisteswissenschaften auch keinen praktischen Nutzen haben. Fähigkeiten für den Beruf, anwendbares Gesellschaftswissen sind kaum zu erwarten. Für die Lehrerberufe ist dafür das Referendariat angehängt. Zuletzt wird der Nutzen des Studiums daran festgemacht, dass der Studierende darin trainiert werde, geistige Aufgaben selbst zu organisieren und zu lösen. Das ist nicht sehr viel.
Die Impulse der Geisteswissenschaft sind im Allgemeinen zu suchen. Es sind geistige Sicherheiten, die – allgemein – geboten werden. Welche Sicherheiten sind das? Welche Verheißungen werden durch wissenschaftliches Arbeiten verwirklicht?
Die erste Verheißung ist die des wissenschaftlichen Fortschritts, sozusagen das sportive Element des Ganzen. Seit ihren Anfängen bei Descartes und in gründlicher Eindeutschung bei Kant behauptet die Geisteswissenschaft, sie verbürge Fortschritt. Fortschritt! Nach Jahrhunderten der schlimmsten Kriege und Revolutionen im Namen von wissenschaftlich geheiligten Ideologien sollte das doch endlich passé sein! Nach Jahrhunderten von Wissenschaft im Elfenbeinturm, ohne jede Relevanz, es sei denn im Rahmen der schon erwähnten Ideologien, nach den Dienerdiensten, den willfährigen Zuarbeiten für politische Aufträge, den akademischen Fehden und Feindschaften unter Professoren, den kultartigen Erhebungen von Geistesgrößen, nach alldem wird immer noch Fortschritt gepredigt?
Hat die Geisteswissenschaft irgendetwas außer Vokabeln hinterlassen, außer Schlagworten, mit denen die Gesellschaft sich in Mode wirft und schlau tut? Die Metapher des Fortschritts ist schon bezogen auf die Naturwissenschaft zweischneidig und ungeklärt. Richtig, das Leben ist verlängert, die Technik hat uns aus der physischen Not befreit, es geht uns gut. Ein Fortschritt um den Preis der Spontaneität, die sich nach irgendwohin verzogen hat. Wir leben derart im Plan, dass wir uns kaum mehr fühlen. Aber gut, das ist der Fortschritt. Das macht die Technik, das macht die Organisation.
Die Geisteswissenschaft macht daran nichts, sie schaut nicht einmal zu, sie ist nur mit sich selbst beschäftigt, mit den universitären Themen und Formen, der eigenen Geschichte, dem Selbstverständnis, mit den wissenschaftlichen Anforderungen, das heißt mit den Formalia, das heißt letztlich: mit Nichts.
Die zweite Verheißung der Geisteswissenschaft ist die Idee der Sachlichkeit. Diese Idee wurde längst ausgehöhlt, und jeder angenehm intelligente Mensch weiß schon aus Beobachtung der politischen Auseinandersetzungen, dass es eine reine Ansicht von der Sache nicht gibt. Allein die Wissenschaft frönt diesem Glauben in Stil und Materie. Sie kaschiert ihre eindimensionale Fixierung, indem sie behauptet, es seien verschiedene Ansichten von der Sache denkbar, wobei aber jede anständige Ansicht wissenschaftlich legitimierbar sein müsse. Wie die wissenschaftliche Legitimierung aussehen soll, ist leicht zu klären: a) braucht es einen Professor, der „Ja, legitim“ sagt, b) muss es natürlich in wissenschaftlicher Form gesagt sein, also eine Expertise muss vorliegen, was bedeutet, die politische oder menschliche Ansicht von der Sache muss in wissenschaftliche Hülsen gebracht werden.
Mit anderen Worten, die selbstreferentielle Aussage eines Menschen muss in die anerkannt sozialisierte Form der Intelligentia gebracht werden, dann ist sie gültig. Natürlich glaubt kein normaler Mensch an die Aussagekraft solcher und jeder anderen Art von geisteswissenschaftlichen Studien – es sind halt nur Formulierungsversuche ins Allgemeine – bloß der Student muss nachbeten, was der Professor sagt und die akademische Arbeitsweise vorgibt. Er muss so tun, als sei das alles wahr. Ihm wird es als intelligent verkauft. Da er – aufgrund seines Studiums im Elfenbeinturm der Universität – mit weniger echten Menschen und Gelegenheiten zu tun hat, dafür mit mehr unechten Situationen und Erkenntnismaschinen – ist er geneigt, manches zu glauben. Der Mangel an Wirklichkeit leistet dem Überfluss Vorschub, den der Schein bewirkt.
Wo es sachliche Aussagen nicht gibt, nur formale, wird auch kein Wissen angehäuft, was die Geisteswissenschaft als dritte Verheißung von sich behauptet. Nach der Legende seien die Menschen irgendwann angefangen, ihr Wissen zu sammeln, und sie bauten auf den gesammelten Erträgen Neues auf, errichteten somit eine Pyramide des Wissens, die, dem Turm von Babel vergleichbar, noch lange nicht abgeschlossen, ja prinzipiell unabschließbar, gleichwohl in den Himmel aufrage und in seiner Dimension die Fassungskraft des einzelnen Menschen weit überschreite, weshalb der Einzelne auch ameisengleich umherkrabbelt wie in einem Termitenbau. Nein, bezogen auf die Geisteswissenschaft funktioniert das nicht, hier gibt es keine Kreiszahl Pi, die in die Berechnungen eingeht, hier ist alles, alles Philosophie, Anschauungssache, Argumentation. Wir stehen also nicht auf den Schultern der Gründerväter, wie die Geisteswissenschaft meint, wie auf erratischen Blöcken, also Dogmen, sondern wir bewegen uns alle auf dem gleichen Erdboden und wir können jedem in die Augen sehen.

Damit kämen wir zu dem letzten Punkt, dem dritten und der Frage, ab wissenschaftliches Arbeiten richtig sei, weil es nicht anders gehe. Für den Studenten geht es sicherlich nicht anders. Er muss studieren, seinen Abschluss machen, er hat keine Wahl. Wenn Walzer gespielt wird, kann er schlecht Foxtrott tanzen oder, jugendlicher, in einer Skateranlage wird er nicht surfen können.
Der Professor hat auch keine Wahl, erst recht nicht die angehenden Professoren, die Noch-Doktoren oder die angehenden Doktoren, die Assistenten. Sie alle stecken in der Mühle, in der Worte und Gedanken klein gemahlen und in Säcken mit der Aufschrift „Wissenschaft“ verkauft werden. Sehen wir also von den in der Mühle rackernden Gesellen ab. Für sie ist wissenschaftliches Arbeiten keine Frage, sondern ein Muss, es ist Alltag und Notwendigkeit, ein Broterwerb. Reden wir von denen, die außerhalb der Mühle stehen und nachdenken können. Kann man anders als wissenschaftlich arbeiten? Gibt es Alternativen?
Es gibt die Alternative der Schule, ja in der Schule hat das Denken und Lesen noch Spaß gemacht! Damals war das Reden noch frei, ungefiltert, und das Interesse, sich selbst einzubringen, galt als lauteres Motiv. Damals war man also noch ein Individuum in sozialer Umgebung – freilich, nur bei einem guten Lehrer, nur in seltenen Momenten, aber doch prägend, so prägend, dass man sich daran orientiert.
Leider wirkt die Schule aber auch auf die Geisteswissenschaft hin, viele Stunden waren mühselig, langweilig, nichtssagend – wer erinnert sich nicht an quälende Gedichtinterpretationen und das ewige Genörgel wegen formaler Mängel!
Was ist Schule also nun? Ein Jungbrunnen, eine Erinnerung an schöne Tage, an Möglichkeiten der Freiheit und des geistigen Lebens – oder eine morbide Vorbereitung, Wissenschaft zu treiben, eine Propädeutik, im Nichts aufzugehen, mit viel Übung darin, sich zu verleugnen und leere Aussagen zu treffen?
Bleibt also die Schriftstellerei! Das Veröffentlichen stellen wir zunächst zurück – es gibt zur Zeit nur eine nicht-akademische philosophische Zeitschrift in Deutschland, den „Lichtwolf“ – wie unmöglich erscheint es da, Bücher zu platzieren, ohne wissenschaftlich legitimiert zu sein! Die philosophischen Verlage, Alber, Meiner und Co., veröffentlichen in schöner Konsequenz immergleiche Editionen alter Meister und neuer Kommentatoren, das ist der Sauna-Aufguss Nummer 127, aber keine Hoffnung schöpfen! Wir kommen noch lange nicht raus! Schön weiter schwitzen!
Man kann ja in Romanen ernsthafte Gedanken entwickeln. Aber wenn man kein Romanschreiber ist und sofort zur Sache will? Schwieriges Gelände, eine Essay-Kultur hat sich in unserem Lande nicht entwickelt, so wenig wie eine Blog-Kultur im Internet, denn wir Deutschen verstehen keine Gedanken als Gedanken, keine Ideen als Ideen und keine Witze als Witze. Wir brauchen immer Autoritäten, Namen, Rang! Harpe Kerkeling? Ah ja witzig! Loriot? Ah ja Klassiker. Wir sind nicht in der Lage frei zu lachen, wenn es wirklich gerade witzig ist – dann schauen wir uns um, ob es erlaubt oder angebracht ist. Umso schlimmer steht es um freie Gedanken, gute Formulierungen und Geist an sich. Wir trauen uns nicht – wir nehmen lieber das Bewährte, Etablierte, die Sektion. Darum ist die Schriftstellerei auch nur dann erfolgversprechend, wenn sie der Sektion dient und sich dort einpasst – das heißt aber, der freie Gedanke wird nicht verlegt.
Ginge es anders? Die Frage ist fiktiv. Natürlich ginge es anders. Zur Zeit geht es nicht anders. Aber es ginge anders, wenn die Menschen sich trauten zu denken. Wenn sie sich trauten, aus den geistigen Gewohnheiten auszubrechen, in denen sie nicht mehr notgedrungen stecken. Ich meine wieder nicht die Angestellten der wissenschaftlichen Mühle, sondern die davon Unabhängigen, die menschlich Interessierten, die Privat-Philosophen, die wir alle sind, wenn wie denken. Lasst uns selbst sein! Wider die wissenschaftliche Entfremdung! Für ein eigenes Urteil! Für eine eigene Untersuchung! Gegen ein Abgeben von Kompetenzen an Pseudo-Fachleute! Gegen unverständliches kompliziertes Gerede! Gegen Definitionen und Begriffsfabriken! Für das freie Wort, das verständliche Wort! Für die Konzentration! Für die persönliche Überzeugung.