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Thesen zum Wort | Theorie des Wortes



 

Aus der „Theorie des Wortes“ (Manuskript)


Kap. 5. Der Gehalt der Worte

  
Jedes Wort ist ein Sinnentwurf. Es macht Sinn oder es bestimmt einen Sinn, wenn es im Sprachgebrauch zur Geltung gelangt. Es öffnet und veröffentlicht Verständnis innerhalb einer Umgebung für das Sprechen, innerhalb einer Wortsituation.
  Das gilt sogar auf der Ebene isolierter Worte, auf der Ebene der Vokabeln und Begriffe. Uns scheinen Begriffe selbstverständlich, die der natürlichen Wahrnehmung entsprechen, wie "Baum". Dabei ist "Baum" wie jedes andere Wort wenigstens eine Entschei­dung auf der Ebene der Abstraktion, ein gedanklicher Ausschnitt aus der gedachten Wirklichkeit. Das Wort „Wirklichkeit“ würde hier die höchste Abstraktionsebene bedeuten, der „Baum“ einen Teil dieser Wirklichkeit. Wir sehen mit den Augen aber nicht den abstrakten Baum, den der Begriff uns bietet, sondern ein bestimmt gewachsenes Exemplar einer bestimmten Art an einer bestimmten Stelle in einem gewissen Zustand.
  Wir sehen immer nur Besonderes, nehmen konkrete Erscheinungen mit den Sinnen wahr, die wir im Begriff zusammenfassen. Dabei gibt es notwendig enger und weiter gefasste Begriffe. „Wald“ wäre ein weiter gefasster Begriff als „Baum“, Rinde“ ein engerer Begriff. Wie weit oder wie eng ein jewei­liger Begriff seinen Sinn fasst und uns die Wirklichkeit begreifen lässt, liegt an ihm selbst. Er ist das gegebene Maß.
   Der Begriff "Schnee" ist in diesem Zusammenhang oft zitiert worden, da er für die Eskimos eine unzulässige Verallgemeinerung darstellt. Sie haben eine Vielzahl von Begriffen für "Schnee", für die verschie­denen Formen des Schneefalls und der Schneekonsistenz.
  In anderer Weise wirkt das isolierte Wort, wenn ich es nicht als Begriff auf die gegenständliche Welt projiziere, sondern als Vokabel auf mich wirken lasse. Der eben schon genannte "Wald" bedeutet für uns Deutsche nicht nur eine Mehrzahl Bäume, sondern er wird als ein wertvoller Teil unseres Lebens­raumes verstanden und "Wald" gilt als Synonym für natürliches Leben. Im Englischen heißt es "Wood", was "Holz" heißt. "Wood" sieht "Wald" unter anderem Aspekt, dem der Nutzanwendung oder dem des charakteristischen Bestandteils, dem Holz. Deutlich wird also, dass durch die einzelne Wortprägung ein bestimmter gedanklicher Zusammenhang aufgestellt und andere Zusammenhänge vernachlässigt oder nicht realisiert werden. Deutlich wird am Beispiel von "Wald" auch, dass eine bestimmte Gefühlssituation ausgedrückt wird. Gleiches gilt für Blume, Himmel, Humus, Mist, Wolke, Ameise, Käfer, Stock und Stein. All diese Einzelworte drücken auch die Gefühle des Menschen aus und neben den Gefühlen seine Wert­schätzung der Sache.
   Das Wort "Sache" drückt auch eine Wertvorstellung aus: "es" ist zu benutzen, ist vielseitig verwend­bar, steht zur Verfügung, ist praktisch, hat keine Eigenwert, sondern darf und soll von uns behandelt und durch unsere Behandlung für uns zu Wert werden. Nach der Nutzanwendung brauchen wir uns nicht weiter darum zu kümmern, "es" hat seinen Zweck erfüllt, wird weggelegt, weggewor­fen, entsorgt. Andere Sachen nehmen seinen Platz ein. "Sache" drückt eine Wertvorstellung für jeden möglichen Ausschnitt der gedachten Wirklichkeit aus. Keine bestimmte "Sache" ist gemeint, kein „sachlicher“ Zusammenhang wird aufgestellt, sondern das Wort ist auf alles anwendbar und drückt nur unsere wertende Einstellung aus. Das Wort „Sache“ wird so in der Regel auf paradoxe Weise falsch verstanden.
  Der Sinnentwurf eines isolierten Wortes beruht grundsätzlich auf diesen zwei Entscheidungen: die Bestim­mung einer Ebene der Abstraktion oder eines gedanklichen Zuschnitts, mit entsprechenden Inhalten und Schnittkanten, und die Bestimmung einer wertenden Einstellung unter Einschluss menschlicher Gefühle.
  Theoretische oder allgemeine, große Begriffe lassen sich noch leichter als menschlichen Zugriff oder wörtliche Erfindung darstellen und es wiederholt sich, dass Worte nicht allein abbilden, sondern eine aktive Leistung darstellen, das heißt für uns Sinn stiften. Das Wort "Demo­­kratie" beruht auf einem bestimmten menschlichen Grundverständnis und meint eine Staatsform für Menschen mit diesem Grundverständnis. Darin sind gefasst persönliche Freiheit, Meinungsfreiheit, Fähigkeit zu streiten und friedlich zu entscheiden, der Glaube an das Überwiegen des Guten oder der Vernunft in der Mehrheit der Abstimmenden.
  Dabei ist unwichtig, dass die Demokratie nicht die Erfindung eines Einzelnen, sondern jahrzehnte- und jahrhundertelange Entwick­lung im alten Griechenland hinter sich hat, bevor sie im Wort so gemeint ist. Wichtig ist ihr auswählendes, wertendes Anliegen, das selbstverständlich auch ein wirtschaftliches Anliegen der wählenden Bürger ist. Auch wirtschaftliche Anliegen sind Wertmuster und erst recht menschliches Maß, das Wort und Handeln mitbestimmt.
  Was feststehende Begriffe und Vokabeln in der Wortart der Nomen betrifft, lässt sich im Zusammen­hang eines Satzgefüges auf alle Worte und Wortteilchen übertragen. Eigentliches Sprechen findet in Sätzen statt. Sie sind die natürliche Umwelt der gesprochenen Vokabel, wobei sich die Vokabel ein- und unterordnet.
  Sätze ordnen und werten weitaus stärker als einzelne Begriffe oder Nomen. Zum Beispiel geht der Satz: „Ich finde die Demokratie gut“ weit über den Sinngehalt des einzelnen Wortes „Demokratie“ hinaus, den der Satz in einen größeren Zusammenhang einordnet und wertet. Sätze konkretisieren und variieren auch die allgemeinen Sinngehalte der Begriffe, zum Beispiel: „Unsere deutsche Demokratie ist noch jung“.
  An dieser Sinn-Leistung sind alle Worte im Satz beteiligt. Alle Worte sind sinnvoll, sie ordnen und werten im syntaktischen, im semantischen und pragmatischen Bereich, um mit den Begriffen der Sprach­wissenschaft zu reden. Allgemein gesagt haben Worte ihre Sinnfunktion im Satzgefüge, in der Art und Weise, wie sie etwas ausdrücken und in ihren aktuellen Bezügen zur Situation.
  Diese Aussagen sind so selbstverständlich, dass sie eigentlich nicht getrof­fen werden müssten, jedoch leidet das Wort unter dem Vorwurf, dass es eben nicht sinnvoll und geltend sei. Anstelle seiner erscheint die objektive Realität als geltend, von der unsere Sinne nur auf bestimmte Weise gereizt würden. In der Wissenschaft herrschen Zeichen- und Code-Theorien für die Sprache vor, die jeweils davon ausgehen, dass etwas Außersprachliches in Sprache übersetzt werden muss. Die Welt als solche wird also als Voraussetzung gedacht, das Wort und der geistige Mensch als Reaktion oder Folgewirkung. Damit wird dem Wort die authentische Geltung abgesprochen und der wörtliche Sinn gilt nicht als wirkliches Begreifen. An seiner Stelle gilt die unbegriffene, offene Weltwirklichkeit.
  Die evolutionäre Erkenntnistheorie geht zum Beispiel davon aus, dass der Mensch als biologisches Lebewesen aus seiner Umwelt nur das aufnimmt, was ihm das Überleben sichert. Sie vermutet zwar, dass er aufgrund seines erfolgreichen Überlebens seine Umwelt einigermaßen richtig aufnimmt, will aber keine Aussage über das Ganze der Welt machen. In jedem Fall begreift der Mensch im wissenschaftlichen Denkansatz nur einen Teil der außer ihm selbst existierenden Wirklichkeit, fundamental bleibt ihm diese Wirklichkeit unbekannt und das erhaltene Wissen von ihr unsicher und relativ.
  Auf der anderen Seite wird die Sprache als Gefängnis angesehen, aus dem wir nicht entkommen können, weil die Mauern des Begriffs und die Ketten der menschlichen Erkenntnis uns festhalten. Die Freiheit muss also außerhalb der Sprache zu suchen sein. Aus dem gleichen Verständnis entspringt der neuere Begriff des Sprachspiels, nach dem wir den Boden der Tatsachen, den Ernst des Lebens, die eigentliche Wahrheit nicht erreichen.
  Im allgemeinen Verständnis haben sich diese Theorien kaum, wohl aber das grundlegende Denk- und Gültigkeitsmodell abgebildet, denn dem Wort an sich wird oft nicht geglaubt, hoch im Kurs steht dagegen die so genannte Realität. Gegenüber Tatsachen wirken Worte wie Phrasen und man glaubt, Informationen verbürgen ein Mehr an Wirklichkeitssinn.
  Auf den Menschen selbst bezogen wird das Wort gern als unzureichendes Abbild eines Gefühls gesehen. Daraus ergeben sich eine Reihe moderner Fehldeutungen: Angeblich wortlose Gefühle und Stimmungen werden dem Wort vorgezogen; sie gelten als echter, so wie Taten als echter gelten. Die sinnliche Wahrnehmung scheint ursprünglicher zu sein als das Wort, und das Wort selbst wirkt in diesem Zusammenhang wie ein zielungenauer, vergröbernder, unsensibler Zugriff oder wie ein Angeber, ein Schaumschläger.
  Verliert sich auf diese Weise der Glaube an das Wort, so büßen aber auch die zunächst höher geschätzten menschlichen Verwandten des Wortes - das Gefühl, die Tat, die Wahrnehmung - an Geltung ein, denn sie sind auf ähnliche Weise willkürlich wie das Wort und mit diesem immer noch irgendwie verbunden. Der Mensch stellt fest, dass er in sich veränderlich ist, dass sein Zustand von Wortprägungen und Gefühlsregungen abhängig ist und dass er so keinesfalls die Erfahrung von Realität widerspiegelt, die er sich nach dem Objektbegriff fest und klar begreifbar vorstellt. Seine Menschlichkeit findet er also nicht objektiv richtig, sie wird ihm unsicher, er verliert das Vertrauen in seine geistigen und seelischen Fähigkeiten. Dabei bemerkt er nicht, dass er nur die Konsequenz des wissenschaftlichen Denkmodells durchlebt, wonach dem Menschen und seinem Wort nicht geglaubt, sondern eine äußere, objektive Welt als Realität gesetzt wird.
   Die meisten Menschen trennen an dieser Stelle (oder schon früher) Wissen und Glauben oder Denken und Fühlen. Sie entwickeln einen privaten Sinn, ein Recht auf Privatleben gegenüber dem allgemeinen Zweifel am Menschsein und seinem öffentlichen Scheitern auf der Suche nach Wahrheit. Anstelle der Hoffnung auf eine überzeugende Wahrheit, worunter objektive Wahrheit verstanden wird, ist das Empfinden einer allgemeinen Beliebigkeit des Denkens und der Vergeblichkeit gedanklicher Sinnfindung getreten. „Nicht zu viel denken“ ist eine bekannte Devise, ebenso behauptet der Volksmund, es sei nicht gut, „zu klug“ zu sein.
  Diese Sprüche der Frustration erklären sich zum großen Teil aus der schädlichen Wirkung der Trennung von Wissen und Glauben. Die Theorie des Wortes lehnt diese Trennung und mit ihr die Denkfigur der Wissenschaft ab. Dafür erklärt sie das Wort zur umfassenden Wirklichkeit des Menschen. Die Wirklichkeit des Menschen soll uns ausschließlich beschäftigen. Diese Wirklichkeit, der Sinn des Wortes, ist für diese Theorie kein Gefängnis, sondern ein Haus mit vielen Türen, ein geöffneter Raum. Das Wort entwirft Sinn, indem es ordnet und wertet. Es ordnet und wertet die Welt, es entwirft einen äußerlichen Sinn, den der Mensch als Wirklichkeit glaubt.
  Das Wort ist aber nicht nur ein äußerlicher Sinnentwurf. Innerlich entspricht ihm der Sinn für den Entwurf; was es äußerlich darstellt und erfasst, ist Ausdruck der innerlichen Substanz. Ein Wort meint so nicht nur etwas vom Menschen Entferntes: Satzzusammenhang, bezeichnete Sache, situativer Kontext usw. Ein Wort ist zuerst und stärker als alles andere im Menschen selbst. Es bildet sich in seinem Geist aus, was nicht genug sagt. Es bildet seinen Geist für die Dauer seiner Geltung. Um es ganz deutlich zu sagen, umfasst das geltende Wort den Geist des Menschen. Das Wort bildet das Bewusstsein des Menschen, es umfasst das Bewusstsein des Menschen und der Mensch ist sich nur im Wort bewusst.
  Das Wort "Tasse" macht den Geist zur Tasse, das Wort "Himmel" adaptiert dem Bewusstsein den Himmel. Dies trifft nicht zu in der distanzierenden Bewegung des Denkens, wenn die Begriffe isoliert vorgeführt und nur angeschaut werden. Wohl trifft es zu in der induktiven Bewegung des Sprechens und Hörens, des Schreibens und Lesens, erst recht des Träumens. Anfangs mag unser Bewusstsein nur parallel die Chronologie der Worte verfolgen, packen einen die Worte aber, versteht man sie erlebend, so sieht man in sie hinein und man ist von ihrer Aussage ergriffen; also sind wir sie. Wir befinden uns dann nicht mehr vor ihrem Äußeren, sondern wir haben Kontakt aufgenommen, sie berührt, uns von ihnen berühren lassen. Erst wenn Bewusstsein und Wort eine Gemeinschaft bilden, verstehen wir und finden Verständnis.
  Der Rückschluss liegt auf der Hand: Wir haben immer so etwas wie Geist, wir sind ständig mental. Unser Bewusstsein ist immer auf die eine oder andere Art gegenwärtig, unsere Aufmerk­samkeit lebt. Wir nehmen die Welt um uns herum wahr, wir begreifen sie nach unserem ordnenden und wertenden Sinn. Also sind wir immer im Wort. Unsere Sinne sind immer vom Sinn des Wortes geleitet. Unser geistiger Raum ist eine aufgespannte, wirkende Vokabel.
  Die Griechen hatten nur ein Wort für Wort und Geist, "Logos", denn sie wussten, dass es keinen Unterschied gibt. Alles, was wir an Geist haben, ist Wort oder dessen Vermittlung: Sprache. Unser Sinn formuliert sich in Sprache, und am Beginn der Sprache, am Beginn unseres Sprechens, müssen wir den Ursprung unseres Sinns suchen. Das Kind wird durch die Sprache erhellt. Die Berührung des gesprochenen Wortes macht aus der menschlichen Seele einen Sinn. Wort und Seele verschmelzen im frühen Kindesalter wie zwei Geschlechtszellen zu einer untrennbaren Einheit, einem fühlenden und begreifenden Wesen.
  Uns ist diese Verschmelzung nicht mehr bewusst, weil wir uns nicht so weit zurück erinnern, aber es gibt ein Beispiel, das man hier anführen kann. Es ist die Geschichte von Helen Keller. (1880 -1968). Helen Keller verlor im frühen Kindesalter Gehör und Sehkraft, so dass sie stumm blieb. Erst als sie herangewachsen war, entdeckte sie mit Hilfe ihrer Sprach­lehrerin das Wort, und zwar anhand der Vokabel "Wasser". Sie beschreibt diesen Moment in ihrem Buch "Out of the Dark".
   Als ihre Sprachlehrerin die Hand unter fließendes Wasser hält und zugleich das Zeichen von Wasser in der Hand Helens ausführt, versteht Helen. In ihrem Innern geht Wasser auf, leben­diges, sprudeln­des Wasser. Plötzlich nimmt sie Gefüh­le wahr und sie bemerkt ihr Gewissen.
  Helen Keller legt Wert darauf, dass ihr Gewissen, ihre menschlichen Gefüh­le und Empfindungen, in eben jenem Moment geboren wurden, als sie das Wort Wasser in ihrem Innern wahrnimmt. Sie erklärt es folgender­maßen: Vor ihrer wörtlichen Erleuchtung durch "Wasser" hatte sie eine Puppe zerstört und diese Zerstörung mit einer Mischung aus Wut und Triumph bejaht. Dazu schränkt sie ein, dass ihr vorheriger Zustand eigentlich nicht mit Worten beschrieben werden können, weil Worte Geistigkeit und Helligkeit bedeuten. Sie aber sei dunkel gewesen. Nach ihrer Erleuchtung habe sie die zerstörte Puppe wiedergefunden und aus Trauer und Reue bitterlich geweint. Sie führt also ihr neues geistiges und seelisches Leben auf das Wort „Wasser“ zurück.
  Vokabeln und Begriffe differenzieren nur. Ihre Substanz nehmen sie von dem ausgebildeten Wort­geist in uns. Wenn sie zur Geltung gelangen, wir sie verstehen oder sprechen, so verschwimmen ihre Konturen und sie gehen im Wortgeist auf; wir entdecken in ihnen unser menschliches Gefühl und unsere geistige Welt. Wenn sie zur Geltung gelangen, „fließt“ andererseits der Wortgeist in sie hinein und er zeigt sich in dem von ihnen geformten Zusammenhang, in Sätzen. Da er spontan und aktuell ist, bewegt er die Formen und bringt sie in entsprechenden Zusammenhängen jeweils anders zur Geltung. Der Satz selbst entspricht in seinem grundlegenden Muster der Bewegung des Wortgeistes, denn in seinem Mittelpunkt steht das Prädikat, das bewegende Verb, das Tu-Wort.
  Der Wortgeist wendet sich aber nicht nur auf Vokabeln und Satzmuster an, die außerhalb seiner vorhanden sind oder gelernt werden. Ursprünglich und natürlich bringt der Wortgeist selbst neue Wortformen hervor, eigene Vokabeln, wenn man so will. Im Traum sprechen wir zum Beispiel fremde Sprachen, erst während wir aufwachen, bemerken wir, dass wir die Worte der fremden Sprache selbst erfinden. Im wachen Zustand würden wir die erfundenen Worte absurd finden, doch im Traum folgen wir ihnen wie selbstverständlich. Der Sinn regiert hier über die Wortformung, er bringt sie beliebig hervor oder aber sie fügen sich vollständig seiner Bewegung und vermögen diese auszudrücken.
   Vokabeln sind ursprünglich Gestaltungen des Wort­geistes, die mit der nächsten Bewegung vergehen oder mit der nächsten Wortbildung verschmelzen, doch wurden sie festgehalten und in ihrer jewei­li­gen Kontur manifestiert. Der Wortgeist kann wieder ihre Gestalt anneh­men, aber er bewegt sie dabei und er nimmt sie in die umfassende Bewegung des Satzes und des Textes. Da der Wortgeist lebt, bewegt er sich ständig und kann nie lange eine beschränkte Wort- oder Satzform anneh­­men; natürlich ist für ihn ein beständi­ger Wechsel, vergleichbar mit der Welle und ihren Spuren im Sand. Wir sprechen in Spuren. Vokabeln sind wie Wachsfiguren, die in der Nähe der Flamme formbar werden.
  Wir haben viele Teilchen, viele Vokabeln für nur ein Wort, das unseren Geist bildet. Das Wort selbst hat kein Teil. Es ist nur innerlich, nur geistig aufgestellt. Es entsteht in uns durch die Berührung mit Teilchen-Worten, mit wörtlichen Aussagen, aber die Berührung ist nicht mechanisch zu denken. Es kommt nicht auf das Teilchen, die Vokabelkontur, sondern auf seinen möglichen Inhalt, seine aktuelle Bedeutung an. Die Bedeutung schöpft das innere Wort. Wort kommt vom Wort persönlich, Sinn gibt sich selbst ab.